Inspiration für die Ökumene: Luther gemeinsam betrachtet – Anselm Grün und Nikolaus Schneider

Welche Chancen bestehen für die Ökumene im Lutherjahr? Wo liegen die Probleme – und wo sind diese gar nicht so groß wie allgemein angenommen? Welche Bedeutung haben die Thesen Luthers im christlichen Alltag des Jahres 2017? Antworten geben die bekannten Theologen Anselm Grün und Nikolaus Schneider in ihrem Buch „Luther gemeinsam betrachtet“.

Eine Rezension von Tobias Rauser
„Luther – gemeinsam betrachtet“ von Anselm Grün und Nikolaus Schneider

Viel wurde und wird in Deutschland über Ökumene diskutiert, gerade im Lutherjahr. Nicht alles davon ist neu, konstruktiv und von gutem Geist getrieben. Eine echte Besonderheit im Reigen der Veröffentlichungen ist der Interviewband des Benediktinermönches Anselm Grün und des ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider.

Das Buch aus dem Vier-Türme-Verlag ist mit „Reformatorische Impulse“ untertitelt – und das trifft es ziemlich genau: Beide Kirchenmänner präsentieren ihren Zugang zu Glaubens- und Kirchenfragen sowie zu wichtigen Thesen Luthers, äußern Verständnis für die andere Position und entwickeln genau daraus den konstruktiven Willen, kleine Hürden einfach zu überwinden und große Probleme anzugehen. Die Fragen stellten Lothar Bauerochse und Klaus Hofmeister.

Nachdem Grün und Schneider zu Beginn des Buches ihre ersten Berührungen mit dem Glauben schildern (wobei wenig Gesprächscharakter aufkommt), entwickelt sich in den folgenden Kapiteln „Lutherbilder“ und  „Grundworte der Reformation heute“ ein aufschlussreicher und von gutem Willen und echtem Verständnis getriebener Diskurs der beiden – über Luther, seine Thesen und ökumenische Fragen. „Angst“, „Glaube“, „Freiheit und Verantwortung“, „Als Christ leben“, „Spiritualität“, „Widerstand“ sowie „Vielfalt und Einheit der Kirchen“ lauten die vielversprechenden und diese Zusage auch einlösenden Diskussionsschwerpunkte der beiden.

Welches Bild die beiden von Martin Luther haben, und wie beide die Spaltung der Kirche beurteilen, ist Thema des Kapitels „Lutherbilder“. Offen und sehr kritisch gegenüber der Position der jeweils eigenen Kirche erörtern Anselm Grün und Nikolaus Schneider, was Luther gestern und heute für sie bedeutet. Dabei werden auch die kritischen Seiten der historischen Person Luther diskutiert – sein Menschenbild, sein Verhältnis zu den Juden, die Härte im Urteil.

Besonders spannend wird es, wenn die beiden über Reform und Spaltung sprechen. „Die offizielle Kirche war einfach der Macht und dem Geld verfallen“, unterstreicht der Katholik Grün die Richtigkeit des Reformanliegens Luthers. „Es musste eine Reform stattfinden. Luthers Protest und seine Ablassthesen kann ich theologisch alle unterschreiben.“ Grün gibt nicht Luther die Schuld, dass aus dem Reformbemühen eine Spaltung wurde: „Dass die Kirche genauso Schuld war an der Spaltung wie Luther, ist klar.“ Die Kirche habe sich nicht bewegt, sondern hinter ihrer Macht versteckt.

„Die offizielle Kirche war einfach der Macht und dem Geld verfallen“

Schneider betont das gemeinsame beider Kirchen, das gemeinsame Erbe. „Ich unterscheide zwischen römisch-katholisch und evangelisch-katholisch.“. Genau darin sieht er eine große ökumenische Chance: In der Tradition, dem Gemeinsamen beider Kirchen vor der Reformation.

Ein besonders spannendes Gespräch entwickelt sich zum Thema „Angst“. Warum können viele Menschen heute nicht mehr glauben? Zwei Dimensionen oder Hürden werden ausgemacht: die rationale Weltdeutung mit wenig Platz für Zweifel und Glaube sowie die Frage der Theodizee. Dennoch sind beide Kirchenmänner frohen Mutes und glauben daran, dass der Mensch in seinem Inneren eine Grundsehnsucht in sich trägt, Fragen zu stellen, nach Sinn zu suchen und auch getragen zu sein.

Diese und andere Themen (etwa die Fokussierung des Protestantismus auf die Bibel oder den Dialog der Kirchen mit der Philosophie) sind in ihrer Tiefe sehr anspruchsvoll, aber im Gesprächsband dennoch für jeden interessierten Leser trotz unterschiedlicher theologischer Ansätze verständlich.

Ein Knackpunkt, das wird auch deutlich, ist das Papstamt. Zwar äußert Schneider Lob für die positive Rolle des Papstes für die Einheit der Kirche, freut sich über die Person Franziskus. Doch das Amt bleibt für den Protestanten schwierig: „Das Amt denkt theologisch gesehen zu hoch von sich und nicht hoch genug von Christus.“

 „In der Praxis ist es so, dass wir es einfach machen“

So hinderlich das Papstamt für die Ökumene, so wenig dramatisch schätzen die beiden die Kontroverse um das gemeinsame Abendmahl ein. „In der Praxis ist es so, dass wir es einfach machen“, sagt Grün. „Wir müssen uns als Kirchen ein Stückchen zurücknehmen“, mahnt Schneider. Dabei dürfe man das gemeinsame Abendmahl nicht zum Event machen, sondern im Geiste der Gastfreundschaft den anderen zur Kommunion einladen. Der Mönch und der ehemalige Präses machen Mut bei diesem Thema.

Mut ist ein gutes Stichwort: Der Gesprächsband macht Mut, drängende Fragen der Ökumene anzugehen. Mit dem Willen, den anderen zu verstehen, die Verschiedenheit zu akzeptieren und die Probleme im Alltag zu lösen.

Wenn der Protestant Schneider den Reichtum der katholischen Spiritualität lobt und die Verbindlichkeit als Weltkirche positiv bewertet, wenn der Katholik Grün die Liebe der evangelischen Kirche zur Bibel und zur Musik hervorhebt und den Aspekt der Vielfalt in den Fokus rückt, dann macht das Mut für ein respektvolles Aufeinander-Zugehen. Ob diese Chance im Lutherjahr genutzt wird, ist nicht ausgemacht – doch  Anselm Grün und Nikolaus Schneider machen mit ihrer offenen Betrachtung der Thesen Martin Luthers Hoffnung. Für alle, die sich mit Luther und der Ökumene beschäftigen, ist dieses aufschlussreiche Buch auf jeden Fall eine Pflichtlektüre.


Anselm Grün und Nikolaus Schneider

Luther gemeinsam betrachtet. Reformatorische Impulse für heute
Lothar Bauerochse und Klaus Hofmeister (Herausgeber)
Vier-Türme-Verlag
207 Seiten, gebunden 
ISBN 978-3-7365-0046-4