Yotin Tiewtrakul arbeitet als Kirchenmusiker in Hamburg und ist als Chorleiter in der anglikanischen Gemeinde, in Gefängnissen und beim Projekt „Sacred Harp“ engagiert. Im Interview mit glaubenslektuere.de spricht er über Glaube und Zweifel sowie die Bedeutung der Musik.
Das Interview führte Tobias Rauser
Herr Tiewtrakul, welche Rolle spielt Ihr persönlicher Glaube für Ihr Wirken als Musiker? Glauben Sie an Gott?
Yotin Tiewtrakul: Im Rückblick muss ich sagen, dass ich verschiedene Intensitäten von Glauben in meinem Leben durchlaufen habe – und ich nehme mal an, dass es anderen genauso geht. Zurzeit stelle ich mir genau diese Frage: Was ist denn für Dich wirklich wichtig? Ist der Glaube wirklich noch ein wichtiger Bestandteil oder ist es nur etwas, was Du schon lange gemacht hast? Wenn Freunde mich fragen „Glaubst Du an Gott?“, dann antworte ich meistens: „Ich weiß noch, wie das war, als ich fest geglaubt habe“. Aus dieser Erinnerung kann ich den Glauben auch mit anderen Menschen teilen. Ich kann mich religiös verhalten. Einmal aus der Erinnerung und dann auch, weil ich glaube, dass dieses Verhalten tief in uns drinsteckt, ein archaischer Urinstinkt. Jeder will irgendwie in einen Kontakt mit etwas, was im Alltag nicht auftaucht.
Würden Sie sich als Zweifler bezeichnen?
Zweifler ist fast noch zu engagiert. Es fällt mir schwer, das zu beschreiben. Manchmal möchte ich fast nur zu einem „Beobachter“ werden, aber ich weiß nicht, ob das geht.
Welche Rolle spielt denn die Musik beim Glauben und Zweifeln?
Allgemein gesprochen glaube ich, dass Musik eine Möglichkeit schafft, dem Gefühl des Glaubens eine Form zu geben. Wenn es konkret ums Singen geht, gibt Musik außerdem die Möglichkeit, diese Form miteinander teilen zu können. Dieser gemeinschaftliche Aspekt führt auch dazu, dass Musik Ausdruck von Gemeinschaft und einer Gruppe von Gläubigen ist.
Warum sind Sie Kirchenmusiker geworden?
Ich habe Komposition studiert, weil ich herausfinden wollte, warum mich Musik so stark anspricht. Was ist das Geheimnis der Musik? Nach dem Studium habe ich dann festgestellt, dass ich eigentlich immer Musik in Kirchen gemacht habe. Dass ich mich heute als Kirchenmusiker bezeichne, hat sich also eigentlich einfach so ergeben.
Sind die dem „Geheimnis der Musik“ denn nähergekommen?
Nein, ich weiß es immer noch nicht, was mir und anderen daran so wichtig ist. Mir ist allerdings klar geworden, dass ein wichtiger Punkt ist, dass Menschen gemeinsam Musik machen. Das ist auch der Grund, warum ich so gerne in der Kirche tätig bin. Das ist ein Ort ist, wo sehr unterschiedliche Menschen zusammen kommen und eben auch Musik machen.
Eine besondere Art der Musik praktizieren Sie mit „Sacred Harp“. Sie singen frei vierstimmige Lieder mit alten, „frommen“ Texten. Eine besondere Chorform ohne direkte Anleitung, die offen für alle sein will. Was bedeutet Ihnen diese Form der Musik?
Sehr viel. Es ist für mich ein wichtiger Bestandteil meiner Suche nach diesem Geheimnis. Als Chorleiter bin ich in einer Rolle, die immer wissen muss, wie etwas geht, die andere anleitet. Bei Sacred Harp sind alle mehr für sich verantwortlich. Da bin ich mit meiner Neugier und meinem Entdecken freier. Das macht für mich den Reiz aus.
Welche Rolle spielen denn die Texte, die ja doch etwas aus der Zeit gefallen sind?
Wahrscheinlich spielen die Texte für einige keine Rolle, für andere hingegen schon. Bei derart alten und auch altmodischen Texten ist eine gewisse Distanz auch offensichtlich. Ich persönlich finde, dass man da auch zurücktreten kann. Ich singe einen Text, von dem ich weiß, dass er sehr alt ist.
Sind die Themen der Texte wirklich so altmodisch?
Irgendjemand hat mit diesen Zeilen etwas verbunden, und den Texten sind Themen immanent, die auch für uns heute wichtig sind. Etwa das Thema Vergänglichkeit, der Tod lauert überall und nur das Festhalten an Gott verspricht Rettung. Das heißt: Die Zeit ist kurz. Das ist durchaus ein Thema für die heutige Zeit.
Gibt es Musik, die Sie im innersten berührt?
Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich höre selber in meiner Freizeit kaum Musik, weil ich mich beruflich ständig damit beschäftige. Zwar spüre ich den Drang und habe große Lust, Musik wieder für mich zu entdecken, als etwas, dass ich nicht nur einfach meistere. Doch dieser Weg liegt noch vor mir.
Sie brauchen eher die Stille, um zu sich zu finden?
Ja, das kann man so sagen. Wenn sich die Frage stellt, ob ich Musik anmache oder nicht, entscheide ich mich zurzeit für die Stille. Obwohl Stille da auch nicht der richtige Begriff ist, da man ja auch so viel hört: ich lausche einer aufwachenden Stadt, vielen Klängen des Alltags. Diese geschenkte, absichtslose Darbietung von Geräuschen ist für mich aktuell interessanter als das passive Hören von Musik.
Yotin Tiewtrakul, vielen Dank für das Gespräch!
Wer sich für das Projekt Sacred Harp und die Arbeit von Yotin Tiewtrakul interessiert, der kann sich hier darüber informieren. Die Internetseite der anglikanischen Kirche in Hamburg finden Sie hier.