Kerstin Söderblom kämpft für eine Theologie, die im Alltag der Menschen verortet ist. Warum die evangelische Theologin Unterschiede von Menschen als Bereicherung ansieht und woraus sie in ihrem Kampf gegen Intoleranz auch innerhalb ihrer Kirche Kraft schöpft, sagt die Pfarrerin im Gespräch mit Tobias Rauser von glaubenslektuere.de
Glaubenslektuere: Theologie und Alltag – für Sie darf das kein Widerspruch sein. Sehen Sie in ihrem Einsatz für die kirchliche Frauen- und Lesbenbewegung Widersprüche zu Positionen der Kirche oder in der Theologie? Wie gehen Sie damit um?
Kerstin Söderblom: Mein pastoraler Dienst hat mich gelehrt, dass Frustrationstoleranz ein wichtiges Gut ist. Und Gelassenheit. Mein Ordinationsspruch heißt: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern den der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Dieser Zuspruch aus dem 2. Brief des Timotius (Kapitel 1,7) hilft mir. In kritischen Situationen sage ich ihn mir auf wie ein Mantra. Wenn ich beschimpft werde, weil ich eine Frau liebe, oder wenn mir aufgrund meiner Lebensform mein Glaube abgesprochen wird. Der Vers ist ein Satz voller Kraft und Zuversicht. Trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Herausforderungen und Nöte im Alltag.
Durch meine haupt- und ehrenamtliche Arbeit bei ökumenischen Treffen, Konsultationen und Vollversammlungen des Ökumenischen Rats der Kirchen habe ich den Begriff „versöhnte Verschiedenheit“ kennengelernt. Früher war ich ungeduldiger. Da habe ich erwartet, dass kirchliche Würdenträger und Gläubige verschiedener Glaubensrichtungen Gleichberechtigung und gleiche Teilhabe von allen Menschen bedingungslos unterstützen. Ich konnte nicht akzeptieren, dass das jemand anders sehen könnte. Mittlerweile habe ich mit so vielen verschiedenen Menschen über diese Themen gesprochen und debattiert, dass ich ruhiger geworden bin.
Warum ist das so?
Positionen und Überzeugungen sind komplexe Prozesse und haben Geschichten, Kontexte und ganz verschiedene Zugänge. Wenn alle Seiten bereit sind, sich gegenseitig zuzuhören und sich ernst zu nehmen, dann ist das schonmal viel. Wichtigste Voraussetzung dafür: Gesicht zeigen, miteinander und nicht übereinander reden. Im Übrigen dürfen sich Theologie und Alltag für mich sehr wohl widersprechen. Beide Perspektiven sind ja nicht deckungsgleich, sondern eröffnen verschiedene Blickrichtungen und zeigen jeweils unterbelichtete Sichtfelder auf. Dafür müssen beide Bereiche miteinander in Verbindung stehen und sich aufeinander beziehen. Sonst ist für mich Theologie nicht relevant. Insofern bin ich eine Anhängerin des verstorbenen Praktischen Theologen Henning Luther. Er hat sich stark gemacht für eine Theologie, die im Alltag verortet ist, die ihn aber gleichzeitig unterbricht und aus der biblischen Botschaft andere Wege und Visionen aufzeigt.
Theologie und Alltag dürfen sich sehr wohl widersprechen. Beide Perspektiven sind ja nicht deckungsgleich, sondern eröffnen verschiedene Blickrichtungen und zeigen jeweils unterbelichtete Sichtfelder auf.
Kerstin Söderblom
Sie schreiben über sich: „Ich hinterfrage Selbstverständlichkeiten, ich halte mich im Grenzbereich auf“. Warum ist Ihnen das wichtig?
Auf der Grenze kann ich meinen Blick in verschiedene Richtungen wenden. Ich bemühe darum nicht betriebsblind zu werden, weil ich gewisse Dinge schon immer so gesehen und schon immer so gedacht habe. Ich möchte verschiedene Positionen im Blick behalten und auf Rückmeldungen und Resonanzen eingehen können. Das kann ich besser von einer Position auf der Grenze als von mitten drin. Zumal ich den Standort der Grenze auch von meiner persönlichen und beruflichen Erfahrung her kenne: Ich habe mich oft in einer Position „dazwischen“ erlebt.
Wie sah diese „Zwischenposition“ aus?
Zwischen Theologie und Geisteswissenschaften, zwischen Seelsorge und systemischer Beratung, zwischen säkularen Menschenrechtsaktivisten und theologischen Netzwerken, die sich für die Gleichberechtigung für queere Menschen in den Kirchen einsetzen. Ganz zuhause habe ich mich nirgendwo gefühlt. Daraus habe ich über die Jahre meine persönliche „Lebenskunst“ entworfen. Das Leben „dazwischen“ erspart mir Schubladen und legt mich nicht fest. Ich bleibe in Bewegung, bin nicht mitten drin und auch nicht außen vor, sondern irgendwo dazwischen. Da, wo verschiedene Energien und Handlungslogiken aufeinander treffen und die meiste Reibungsenergie vorhanden ist. Es ist ein anstrengendes und spannendes Feld. Ich möchte es nicht missen, auch wenn ich mich manchmal nach einem Zuhause sehne.
Ganz zuhause habe ich mich nirgendwo gefühlt. Daraus habe ich über die Jahre meine persönliche „Lebenskunst“ entworfen.
Kerstin Söderblom
Was verstehen Sie unter Theologie der Vielfalt?
Eine Theologie der Vielfalt ist kein geschlossenes Theoriesystem, sondern ein offener Prozess. Deshalb spreche ich lieber von Aspekten einer Theologie der Vielfalt. Diese sind zeit- und kontextgebunden und orientieren sich an vorhandenen Ressourcen. Die Aspekte sind beweglich, veränderbar und bruchstückhaft. Sie haben nicht den Anspruch, wasserdichte Antworten zu liefern, sondern laden zum Nachdenken und Hinterfragen ein. So sehe ich mich auch eher als Sucherin, die gemeinsam mit anderen auf dem Weg ist und einen kleinen Beitrag zu einer kontextuellen Theologie der Vielfalt beisteuert.
Können Sie das noch etwas konkretisieren?
Grundlage und Ausrichtung einer solchen Theologie der Vielfalt ist die biblische Gesamtbotschaft: Für Jesus ist das höchste Gebot das „Doppelgebot der Liebe“ (Markus 12, 29 – 31). Es verpflichtet jeden Gläubigen zur Gottesliebe genauso wie zu Verantwortung und Respekt gegenüber sich selbst und anderen – gerade denen gegenüber, die als anders und fremd gelten. Jesus hat entsprechend gelehrt, gepredigt und gehandelt. Er hat die damaligen Außenseiter*innen in die Mitte seiner theologischen Botschaft gestellt. Auch der Apostel Paulus unterstreicht mit seinem Bild vom „Leib Christi“ (1. Korinther 12, 12 – 27), dass die Menschen in den Gemeinden mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Fähigkeiten nur gemeinsam den einen Leib Christi formen können. Kein Glied kann ohne Schaden für das Ganze ausgegrenzt oder herausgenommen werden.
Jesus hat entsprechend gelehrt, gepredigt und gehandelt. Er hat die damaligen Außenseiter*innen in die Mitte seiner theologischen Botschaft gestellt.
Kerstin Söderblom
Bezieht sich diese Theologie auch auf das biblische Menschenbild?
Ja, genau. Im 1. Buch Mose wird das Motiv der Gottesebenbildlichkeit eingeführt. Danach ist jeder Mensch einzigartig und zugleich Gottes Ebenbild. Unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Genderidentität, Alter, Gesundheitszustand, Sprache, Kultur und Lebensform bildet jeder Mensch Gottes Ebenbild in unterschiedlicher aber gleichberechtigter Weise ab. Niemand muss dafür Vorbedingungen erfüllen. Das hat auch Auswirkungen für christliche Gemeinschaften und Kirchengemeinden. Die Unterschiede von Menschen werden als bereichernd und nicht als bedrohlich angesehen. Offene, gastfreundliche und inklusive Kirchengemeinden und religiöse Orte sind gewollt und attraktiv. Denn die biblischen Geschichten erzählen von der Gemeinschaft der Unterschiedlichen, die gerade durch ihre verschiedenen Fähigkeiten und Begabungen die Gemeinschaft stärken. Genau dafür stehen für mich Aspekte einer Theologie der Vielfalt.
Führt Ihr Einsatz (der manchmal sicher auch ein Kampf ist) für benachteiligte Gruppen nicht manchmal auch dazu, dass man den großen Rahmen, den Glauben, in Frage stellt?
Ja, manchmal ist das so. Wenn ich zum x-ten Mal mit den gleichen Vorurteilen und Stereotypen konfrontiert werde, wenn es beispielsweise um Schwule, Lesben, Bi- und Trans*-Menschen (LSBT) geht, dann werde ich müde. Immer wieder müssen ich und andere von vorne anfangen zu argumentieren. Wenn ich dann gleichzeitig erlebe, wieviele Menschen unter Stigmatisierung und Ausgrenzung (nicht nur) in den Kirchen leiden, dann möchte ich manchmal alles hinschmeißen.
Unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Genderidentität, Alter, Gesundheitszustand, Sprache, Kultur und Lebensform bildet jeder Mensch Gottes Ebenbild in unterschiedlicher aber gleichberechtigter Weise ab. Niemand muss dafür Vorbedingungen erfüllen.
Kerstin Söderblom
Warum tun sie es nicht?
Ich denke an meine Geschwister in Osteuropa, die als LSBT sowohl staatlicherseits als auch kirchlicherseits verleumdet, bedroht und kriminalisiert werden. Da kann ich doch nicht aufhören mich für Gleichberechtigung einzusetzen! Außerdem ist mir bewusst, wieviel Macht trotz aller säkularen Tendenzen kirchliche Institutionen immer noch im Hinblick auf Fragen von Lebensformen und Sexualethik haben. Dieses Deutungsfeld möchte ich mitgestalten. Insofern ist mein Motto: Den Mut nicht verlieren und nicht vereinzeln lassen! Ich erinnere mich, dass es viele Menschen diesseits und jenseits kirchlicher Orte gibt, die solidarisch mit mir und anderen unterwegs sind und die viel Energie und Kraft darauf verwenden, sich für Respekt und gegen Hass und Häme einzusetzen. Das spornt mich an.
Wie wichtig ist die Institution Kirche für Ihren Glauben? Wie sind Ihr Glaube und die Kirche miteinander verbunden?
Mein Glaube ist zunächst einmal eine Sache zwischen mir und meinem Gott. Ich bin theologisch sehr geprägt von Martin Bubers dialogischem Prinzip und seinem Bild von der Zwiesprache zwischen Gott und den Menschen. Allerdings schreibt Buber auch, dass Gott, das „Ewige Du“, nur in Begegnungen zwischen einem Ich und einem Du erlebbar wird. Für ihn als jüdischen Religionsphilosophen sind unmittelbare Begegnung und Gemeinschaft dafür notwendig. Für mich als evangelische Pfarrerin ist das auch so. Die Institution Kirche brauche ich dafür nicht. Allerdings bietet mir die verfasste Kirche – wenn sie offen und inklusiv auftritt – Anlässe und Freiräume, um genau solche Begegnungen zu ermöglichen und zu erfahren.
Woran zweifeln Sie?
Ich bin Pfarrerin, systemische Beraterin und Trauerbegleiterin. Aber ganz ehrlich: Ich habe Schwierigkeiten mit der christlichen Lehre von der Auferstehung nach dem Tod. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Deshalb halte ich diesen Bereich in Predigten und Trauerbegleitungen bewusst offen. Was ich dagegen ablehne: Narrative, die Menschen vertrösten. Nach dem Motto: Im nächsten Leben wird alles besser. Dann werdet ihr für euren Glauben belohnt werden. Da werde ich hellhörig. Zuspruch und Begleitung gehören in dieses Leben. Segen muss spürbar sein im Lärm und Dreck des Alltags. Und genau dafür brauche ich Hoffnungsbilder, wie sie in den biblischen Gleichnissen stehen, wie zum Beispiel das Senfkorn, das wächst und Früchte bringt. Solche Bilder geben mir die Zuversicht, dass die Welt in Zukunft gerechter sein wird und dass ich und andere an jedem neuen Tag dafür „Gerechtigkeits-Samen“ pflanzen können.
Da werde ich hellhörig. Zuspruch und Begleitung gehören in dieses Leben.
Kerstin Söderblom
Mit wem diskutieren Sie als Theologin Ihre Zweifel?
Über offene Fragen und Herausforderungen tausche ich mich regelmäßig mit anderen Kolleginnen und Kollegen in einer Intervisionsgruppe aus. Und ich habe meine christlich queeren Netzwerke, mit denen ich schon seit über zwanzig Jahren in ganz Europa verbunden bin. Das ist meine „Großfamilie“. Mit ihnen treffe ich mich regelmäßig. Wir tauschen uns aus, unterstützen uns gegenseitig, feiern gemeinsam Gottesdienste und Feste. Da kann ich so sein, wie ich bin.
Woran glauben Sie?
Ich glaube an Gott, die Quelle allen Lebens. Ich vertraue auf Gott, den unverfügbaren, ganz Anderen. Gott ist für mich kritisches Prinzip, christliche Lebensbegleitung und Herzensenergie. Mein Glaube gibt mir Kraft für mein Engagement für die Gleichberechtigung von sexuellen und anderen Minderheiten. Mein Glaube ermutigt mich aber auch, meinen Alltag immer mal wieder zu unterbrechen, still zu werden, hinzuhören und nichts zu tun. So wie es Johann Baptist Metz einmal formuliert hat: Unterbrechung ist die kürzeste Definition von Religion. Darüber hinaus glaube ich an Gottes Sohn Jesus Christus, der uns das „Doppelgebot der Liebe“ vermacht hat (Markus 12, 29 – 31). Ich fasse es so zusammen: Liebe Gott und respektiere deinen Nächsten wie dich selbst. In diesem Satz ist für mich alles gesagt. Und ich bin überzeugt, dass Gottes Geistkraft unverfügbar und nicht kontrollierbar ist. Sie weht, wo sie will. Die Wirksamkeit meines Handelns kann ich folglich auch nur bedingt steuern. Dennoch bin ich für mein Handeln verantwortlich. So wie es Gotthold Ephraim Lessing schon im 18. Jahrhundert in der Ringparabel aufgeschrieben hat: Die Wirksamkeit meiner Religion und meines Glaubens erweisen sich in meiner Haltung mir selbst und anderen gegenüber und in meinem Tun. Es ist also nicht egal, was und wie ich es tue.
Ich fasse es so zusammen: Liebe Gott und respektiere deinen Nächsten wie dich selbst. In diesem Satz ist für mich alles gesagt.
Kerstin Söderblom
Wie hat sich dieser Glaube durch ihre Arbeit verändert?
Die Begegnung mit jungen Studierenden im Evangelischen Studienwerk in Villgst, aber auch mit Trauernden, Kranken und Benachteiligten an anderen Orten, haben mir gezeigt: Respekt und Achtsamkeit vor dem Leben anderer Menschen sind zentral. Denn das Leben ist weder selbstverständlich noch ewig. Ich lebe mit dem Wissen, dass ich sterben werde. Diese Haltung von „memento mori“ (gedenke Mensch, dass wir sterben müssen), lehrt mich dankbar zu sein und mein Leben bewusst zu leben. Es lehrt mich darüber hinaus, achtsam mit dem Leben von anderen umzugehen. Ich höre Menschen zu. Sie erzählen mir ihre Geschichte in traurigen, schmerzhaften, fröhlichen oder hoffnungsvollen Momenten. Ich weiß es nicht besser, ich habe keine Rezepte. Stattdessen biete ich an, zuzuhören und ein Stück des Weges mitzugehen. Das ist mir wichtig. Ob im Reden oder im Schweigen, beim Gebet oder in der Meditation. Gott ist da, wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind. Das ist für mich entscheidend. Alles andere liegt nicht in meiner Hand.
War diese innere Ruhe schon immer da?
Früher war ich ungeduldiger. Ich wollte mehr machen, mehr bewirken. Heute vertraue ich auf die kleinen Schritte und die kleinen Augenblicke, die manchmal große Wirkungen haben können, manchmal aber eben auch nicht.
Eine Ihrer Schwerpunkte ist die intensive Auseinandersetzung mit dem Sterben. Sie sind Sterbebegleiterin. Treten in einer solchen Phase Zweifel deutlicher hervor – bei den Menschen, die Sie begleiten, aber auch bei Ihnen? Wie gehen Sie damit um?
Meine Erfahrung aus der Trauerarbeit ist, dass sich an den Rissen und Bruchkanten des Lebens ein Spalt auftut. Und genau da kann Licht einfallen. Insofern geht es nicht um das Leben ohne Leid und Narben. Es geht darum, die Brüche und die Schmerzen im Leben ansprechbar zu machen, da zu bleiben und mit auszuharren, wenn nichts mehr geht und nichts mehr gesagt werden kann. Dazu gehören auch Wut und Klage, Zweifel und Verzweiflung. In der christlichen Liturgie haben diese Gefühle für mich Platz. Ich habe es selbst schon erlebt. Mein jüngster Bruder ist mit 39 Jahren gestorben. Ich war verzweifelt und konnte nur noch weinen, klagen und schreien. Es hat schrecklich weh getan. Aber die alten Klagepsalmen haben mir geholfen. Mehr war nicht drin. Diesen geschützten Resonanzraum möchte ich auch anderen Menschen anbieten, die sich in ihrer Trauer an mich wenden. Damit kann ich Leid nicht ungeschehen machen und Schmerzen auch nicht nehmen. Aber ich kann da sein. Und das tue ich gerne.
Frau Söderblom, herzlichen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Kerstin Söderblom wurde 1963 in Darmstadt geboren. Die evangelische Theologin ist in der kirchlichen Frauen- und Lesbenbewegung aktiv und prägte den Begriff der „Theologie der Vielfalt“. Sie ist seit 2014 Sterbebegleiterin. Bis Februar 2019 arbeitete Söderblom als Studienleiterin und Pfarrerin im Ev. Studienwerk in Villigst/Westfalen. In ihrem Wikipedia-Eintrag können Sie weitere Details nachlesen. Söderblom twittert und hat eine eigene Website.