„Der Skandal der Skandale: Die geheime Geschichte des Christentums“ von Manfred Lütz

Ist die Kirchengeschichte gar nicht so skandalös, wie es in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören ist? Manfred Lütz hält dagegen, wirkt dabei aber längst nicht immer überzeugend.

Eine Rezension von Michael Cordes

Manfred Lütz: Der Skandal der Skandale

Es ist dies einer der bekanntesten und für viele auch anrührendsten Stellen im Neuen Testament: die vom zweifelnden, ungläubigen Thomas, der erst dann an der Auferstehung Jesu glauben will, wenn er mit seinen Fingern die Male der Nägel berühren und seine Hand in die Seite seines Herren legen kann.

Ähnliche Zweifel beschleichen einem womöglich auch, wenn man das Buch von Manfred Lütz „Der Skandal der Skandale“ liest. Als Katholik würde man ja gerne glauben, was Lütz da schreibt: Dass die Kirche nur einen sehr geringen Anteil hatte an der Hexenverbrennung; dass die Verfolgung von Ungläubigen und die Kreuzzüge vor allem von politischen Machthabern vorangetrieben und nicht oder kaum von der Kirche initiiert wurden; dass die katholische Kirche sehr tolerant war gegenüber Andersgläubigen, Juden, Moslems. Ach ja, gegenüber den evangelischen Mitchristen natürlich auch. Aber stimmt das tatsächlich? Da begehrt in einem der Jünger Thomas auf.

Eine Parforce-Ritt durch 2000 Jahre Kirchengeschichte

Lütz wagt in seinem Buch einen Parforce-Ritt durch 2000 Jahre Kirchengeschichte. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bezieht sich in seinem Buch auf das Werk des Kirchenhistorikers und katholischen Priesters Arnold Angenendt aus dem Jahr 2007, das sich über 800 Seiten erstreckt. Lütz unternimmt den Versuch, das wissenschaftliche Buch von Angenendt auf 300 Seiten zu verkürzen, um es „einer breiteren Öffentlichkeit in lesbarer Form zugänglich zu machen“. Es ist also für Laien gedacht, die sich in der Kirchenhistorie nicht auskennen. Denen will er die wahre Geschichte über das Christentum präsentieren. Denn eines stellt Lütz schon auf der ersten Seite seines Vorwortes im ersten Absatz klar: Die Informationen, die es über das Christentum gewöhnlich gibt, die sind „grotesk falsch“. Hoppla.

Nun kann der Schreiber dieser Zeilen als Laie nicht nachprüfen, ob Lütz mit seinen Thesen Recht hat oder nicht. Aber es fällt auf, dass Lütz kaum eine Kritik auslässt, der sich der Kirche ausgesetzt sieht. Ob es nun die Hinrichtung des „Irrlehrers“ Priscillian im vierten Jahrhundert ist, die Verurteilung von Galileo Galilei bis hin zum Kindesmissbrauchs in der heutigen Zeit ist: Lütz spricht all diese und noch viel mehr Themen an. Er leugnet nicht, dass es diese Untaten gegeben hat. Er macht den Anteil der Kirche daran aber kleiner wie gemeinhin behauptet (wenn es beispielsweise um die Inquisition geht).

Relativierungen, die Fragen aufwerfen

Und er findet für jeden Vorwurf eine Relativierung: Ja, in der Tat, um das Beispiel Priscillian aus dem Jahr 385 aufzunehmen, wurde dieser Mann hingerichtet. Aber der damalige Erzbischof von Mailand und der „berühmte heilige Martin, Bischof von Tours“, eilten gleich zweimal nach Trier, um die Untat zu verhindern. Vergeblich. Als Folge wurden alle in Trier beteiligten Bischöfe vom damaligen Papst aus der Kirche ausgeschlossen. Dem schließt sich die Feststellung von Lütz an, dass der der Hinrichtung folgende Disput dafür gesorgt habe, dass es bis zum Jahr 1000 keinerlei Häretikertötungen mehr gab.

Als Laie fragt man sich, mit welcher Gewissheit man 1000 Jahre später eine solche Behauptung aufstellen kann. Vielleicht liegen heute dazu keinerlei Informationen mehr vor. Aber deshalb zu behaupten, es habe bis zum ersten Jahrtausend keine Hinrichtungen von Ketzern gegeben, erscheint doch gewagt. In einer Zeit, in der eine lückenlose Auflistung solcher Verbrechen nicht an der Tagesordnung war. Und in einer Zeit, in der es noch keinen Buchdruck gab und nur wenige Menschen leben und schreiben konnten.

So ergeht es einem mit vielen Relativierungen der Greueltaten, die da im Namen der Kirche (sicher nicht immer durch sie selbst) begangen wurde. Einer dieser Relativierungs-Muster, die sich durch das gesamte Buch ziehen: Neuere, wissenschaftliche fundierte Erkenntnisse, so argumentiert Lütz, würden beweisen, dass die „starren Klischees über die Geschichte des Christentums“ nicht der Wahrheit entsprechen. Ja, natürlich neigt man dazu, den neuen Erkenntnissen eher Glauben zu schenken als denjenigen, die ein paar Jahre, Jahrhunderte alt sind. Man fragt sich aber, ob andere Wissenschaftler in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren dann nicht wieder zu einer völlig anderen Einschätzung kommen. Abgesehen davon, dass es heutzutage auch Experten gibt, die den Thesen von Lütz/Angenendt widersprechen würden.

Es wimmelt von Superlativen

Lütz Behauptungen in dem Buch lassen einem auch deshalb zweifeln, weil er mit Superlativen nur so um sich schmeißt. Ein Beispiel: Die „Legenda nera“, also die Behauptung, die Spanier respektive die katholische Kirche wäre im 15. Jahrhundert brutal gegen die Indios vorgegangen, bezeichnet Lütz als „die nachhaltigste Geschichtsfälschung aller Zeiten“. Lässt sich dieser Superlativ überhaupt treffen? Und wenn ja, wer bestimmt, was die nachhaltigste Geschichtsfälschung aller Zeiten ist? Wenn schon, dann vielleicht ein Historiker, nicht aber doch ein Facharzt.

Es riecht in dem Buch sehr nach Effekthascherei, was sich auch im Buchtitel äußert: Das Wort „Skandal“ ist ja schon ein sehr mächtiges, aufsehenerregendes. Aber das reichte dem Autor oder dem Verlag nicht, es musste noch eine Steigerung her, untermalt mit einer Bombe und einer glühender Zündschnur. Mehr Dramatik geht kaum noch.

Die Botschaft des Buches an sich ist nicht verkehrt,
aber …

Das ist sehr schade. Zum einen deshalb, weil Lütz als Redner ein glänzender, humoriger Unterhalter ist und in seinen Vorträgen gar nicht so dogmatisch rüberkommt wie das Buch es vermuten lässt. Zum anderen und viel wichtiger: Die Botschaft des Buches an sich ist ja gar nicht verkehrt. Denn Lütz hat ja durchaus recht: Wie häufig ertappt man sich dabei, als Angehöriger der Kirche dieselbe zu kritisieren. Wegen der Verfolgung Ungläubiger, der Inquisition, der Rolle der Kirche im dritten Reich, etc. Und wie wenig redet man über das Gute, dass die Kirche in der Vergangenheit geleistet hat (das allerdings auch selten bis nie in der öffentlichen Debatte Thema ist).

Immerhin, Lütz gelingt es, dass man sich trotz der einseitigen Ausrichtung des Buches die Frage stellt, ob die Historie der Kirche und damit auch die Kirche in der Öffentlichkeit nicht schlechter gemacht wird als sie war/ist. Auch wenn das Buch Schwächen hat, auch wenn an einigen Stellen ob der Einseitigkeit sogar eher noch mehr Zweifel in einem aufkommen, als das sie gemildert werden; trotz allem ist das Buch dennoch lesenswert. Der ungläubige Thomas, der in vielen Christen schlummert, der wird womöglich nicht restlos überzeugt sein, aber Anlass finden, seine Einsichten zu überdenken.

Der Skandal der Skandale: Die geheime Geschichte des Christentums.
Manfred Lütz
Verlag Herder
288 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-451-37915-4