„Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?“ So lautet der Titel des Buches von Heiner Geißler. Es beschäftigt sich mit einer uralten Frage (Theodizee): Wenn es Gott gibt, warum gibt es Leid auf der Welt?
Eine Rezension von Tobias Rauser
Das im Ullstein-Verlag erschienene Buch mit dem Untertitel „Fragen zum Lutherjahr“ macht eines in der Tat: Fragen aufwerfen. Kaum ein Absatz, der nicht mit einer Frage endet. Die Antwort ist fast immer gleich: Heiner Geißler kritisiert die Theologie der Kirche – die Sündenlehre. Er fordert von der Kirche, sich von der Idee der Erbsünde zu verabschieden. Für ihn steht fest: „Alle bisherigen Antworten auf die Frage der Theodizee sind in höchstem Maße unbefriedigend, falsch, blasphemisch und nicht vermittelbar.“
Immer wieder nimmt er in seiner Kritik auch Martin Luther, den er als „großen Propagandist der Sündentheorie“ sieht, in den Fokus. Das wirkt ab und an etwas gewollt – und ist wohl dem Erscheinungstermin pünktlich zum Reformationsjubiläum geschuldet.
Das kurze Buch ist leicht zu lesen und gut verständlich, was auch an den sehr kurzen Kapiteln (oft nicht länger als zwei Seiten) liegt. Gleichzeitig liegt dort aber auch seine Schwäche. Durch den Ritt durch schier unendliche Beispiele und Themen, die im Endeffekt aber immer auf das Gleiche zielen, wirkt das Ganze etwas wild, ohne große Weiterentwicklung und wenig konzentriert.
Folter, Vergewaltigungen, Hexenjagden, die Germanwings-Katastrophe – jedes der historischen oder aktuellen Elends-Beispiele zeigt: Der Autor zweifelt am allmächtigen Gott. Der Philosoph, Jurist und Politiker Geißler lässt es dabei sprachlich krachen und nicht an Deutlichkeit vermissen: „Die offizielle evangelische und katholische Lehre verharrt, was die Interpretation von massenhaftem Leid und Elend betrifft, im Zustand eines geistigen Feudalismus.“ Mit diesem Feudalismus, so der Autor, verdamme die Lehre die Menschen mit Rechtfertigungslehre, Erbsünde und Gnadentheologie und verleugne die politische Botschaft des Evangeliums. Kurz: „Sie verrät die jesuanische Botschaft der Nächstenliebe“ Er zweifelt an Gott, so wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen sieht. „Ein Gott, wie ihn die Theologie der christlichen Kirchen beschreibt, kann es nicht geben“, schreibt Geißler.
Die klaren Worte, die nicht selten um sich greifende Polemik und die harschen Urteile lassen den Leser oft mit dem Wunsch zurück, eine Gegenrede zu hören oder zu lesen.
„Nächstenliebe ist maßgebend für Christsein, nicht die Theologie.“
Worauf er hinaus will, kann man schnell erahnen, da Heiner Geißler immer wieder Jesus in seine Ausführungen einbaut. „Jesus muss man aus dieser Sündentheologie der Kirchen heraushalten. Man muss ihn vor dieser Theologie retten.“ Für ihn sind Jesus, sein Leben und seine Werte relevant – und darum lautet seine These, die gleichzeitig Antwort auf die im Buchtitel gestellte Frage ist: „Nächstenliebe ist maßgebend für Christsein, nicht die Theologie.“
Das Problem: Seine These, dass zweifelnde und nicht-gläubige Menschen Christen sein und bleiben können, wenn sie der Botschaft Jesu, der Nächstenliebe, folgen, nimmt leider nur einen minimalen Teil des Buches ein (weniger als ein Zehntel des Buches). Der überwiegende Teil des Buches wirft mehr Fragen als Antworten auf, was sicher auch dem Thema geschuldet ist.
Dennoch hätte man sich gewünscht, dass der Autor etwas mehr in seine These investiert hätte, als eine wütende Streitschrift gegen die Theologie der Kirchen zu verfassen. Was fehlt, ist eine Alternative und eine wirkliche Auseinandersetzung mit seiner Aussage, warum er Christsein ohne Gott für möglich hält. Und so ist die Frage am Ende des kurzen Buches genauso offen wie zu Beginn: Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?
Ein Interview mit Heiner Geißler mit Domradio.de zum Buch finden Sie hier.