Hans Leyendecker im Interview: „Wer tatsächlich etwas verändern möchte, der muss jetzt etwas tun.“

Hans Leyendecker, Journalist und Präsident des evangelischen Kirchentages, im Interview mit glaubenslektuere.de: Was er als Aufgabe gläubiger Journalisten sieht, was er vom 37. Deutschen evangelischen Kirchentag erwartet und warum er eine Einheitskirche „schrecklich“ findet.

Hans Leyendecker, Jahrgang 1949, gilt als einer der profiliertesten investigativen Journalisten in Deutschland. Er arbeitete für den Spiegel und zuletzt für die Süddeutsche Zeitung. Leyendecker ist Präsident des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages 2019 in Dortmund

Herr Leyendecker, welche Rolle hat der Glaube in Ihrem Beruf gespielt?

In bin gläubig, und das seit jungen Jahren. Der Glaube kann auch Orientierung im Beruf sein. Glaube und Journalismus haben zudem etwas miteinander zu tun, wenn es darum geht, wahrhaftig zu sein. Zum investigativen Journalismus gehört das Aufdecken von Missständen. Das ist aber nur die halbe Arbeit. Man sollte auch helfend eingreifen, Alternativen aufzeigen, wie es anders, besser, sein könnte. Das gelingt leider nicht immer. Aber wenn es gelingt, ist das eine Form der Wahrhaftigkeit.

Was sind Beispiele für eine solche Wahrhaftigkeit von Journalisten?

Ein Beispiel ist die Korruption in den Städten. Die war früher deutlich stärker verbreitet. Da hat es eine Offensive gegeben von Journalisten und Ermittlern, die immer wieder solche Fälle aufgedeckt haben. Als Folge wurde ein Vieraugenprinzip eingeführt. Oder im Bereich der Dual-Use-Waren, also Waren, die sowohl militärisch wie auch zivil einsetzbar sind: Die Anprangerungen haben dazu geführt, dass verschiedene Konzerne den Versuch, Geschäfte damit zu machen, eingestellt haben.

Haben Sie als gläubiger Journalist Unterschiede festgestellt zu Kollegen, die keinem Glauben angehören?

Nein, denn Christen sind keine besseren Menschen. Sie haben aber Hoffnung.

„Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“, hat Goethe mal gesagt. Doch längst nicht immer stimmt, was geschrieben steht. Sind Ihnen solche Fehler auch unterlaufen?

„Unter manchen dieser Schäden, die ich angerichtet habe, leide ich noch heute“

Ja. Unter manchen dieser Schäden, die ich angerichtet habe, leide ich noch heute. Ich nenne immer wieder die Berichterstattung zum Polizeieinsatz in Bad Kleinen, bei dem ein Polizist erschossen wurde und der RAF-Terrorist Wolfgang Grams zu Tode kam. Dort gab es in meiner Berichterstattung Mängel in der Recherche, die ich heute noch sehr bedauere. Aber es gibt auch andere Beispiele, wo ich in das Privatleben von Menschen eingegriffen habe und vorschnell zu Urteilen gekommen bin.

Wie geht man damit um, gerade auch als gläubiger Christ? Als Journalist kann man es ja nicht oder kaum wieder gutmachen.

Es ist schon so, dass mich das belastet, unterschiedlich stark, je nach Schwere des Falls oder auch dem Ausmaß meiner Beteiligung. Ich habe dann immer versucht, mich bei den Betroffenen zu entschuldigen.

Welche Konsequenzen hatten solche Fehler für Ihre weitere Arbeit?

Man muss daraus lernen. Ich habe dann versucht, beim nächsten Mal noch genauer abzuwägen und auch etwas weniger forsch zu agieren, gerade in der Abgabe von Urteilen. Man sollte vor allem vorsichtig mit dem Protagonisten sein und versuchen, beide oder mehrere Seiten zu beleuchten. Und dennoch, es sind immer wieder Fehler passiert. Das lässt einen nicht los.

Waren die Zweifel schon mal so groß, dass Sie sich gesagt haben: Das ist die Arbeit nicht wert?

Die Zweifel an der Tätigkeit an sich waren nicht da, wohl aber an mir selbst. Da gibt es dann auch schon mal schlechte Phasen. Aber ich glaube nicht, dass es mir besser ergangen wäre, wenn ich dann meinen Job aufgegeben hätte. Fehler macht jeder im Beruf. Nehmen Sie die Ärzte, denen auch Fehler unterlaufen können mit furchtbaren Konsequenzen. Aber dennoch ist deren Arbeit unverzichtbar.

Medien und Journalisten stehen derzeit in der Kritik bei Teilen der Gesellschaft. Sollten sie behutsamer mit Informationen umgehen, um nicht das Vertrauen in der Gesellschaft zu verlieren?

Was ich mir wünsche ist, dass sich Journalisten den Tatsachen nähern. Und wenn diese Tatsachen von anderen verborgen werden, dass sie sich große Mühe geben, diese Tatsachen aufzudecken. Behutsam, wie Sie es nennen, das hat ja etwas Harmonisches. Das ist aber nicht unser Auftrag. Zum Auftrag von Journalisten gehört auch, unangenehme Dinge beim Namen zu nennen und die Gesellschaft darüber zu informieren, wie eine Lage wirklich ist. Und aller Kritik zum Trotz: So einen guten Journalismus wie derzeit haben wir noch nie gehabt.

Diese Meinung würde nicht jeder teilen.

Naja, einerseits haben wir womöglich auch noch nie so einen schlechten Journalismus gehabt. Wesentlicher ist mir jedoch, dass wir noch nie so einen guten Journalismus hatten wir heute. Nehmen Sie die Süddeutsche Zeitung, die mit Medien aus über 70 Ländern zusammenarbeitet, um über die Panama-Papers zu schreiben. So etwas wäre früher unvorstellbar gewesen.

Und trotzdem verliert der Journalismus an Vertrauen, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung.

Ja, aber das ist ein generelles Misstrauen, das sich breit macht. Viele Menschen wollen nur das bestätigt haben, was sie schon immer selbst gesagt haben.

„Vertrauen“ wird eine große Rolle beim evangelischen Kirchentag vom 19. bis 23. Juni 2019 in Dortmund spielen. Dessen Losung lautet: „Was für ein Vertrauen“. Was erwarten Sie als Präsident des evangelischen Kirchentages von der Veranstaltung?

Hans Leyendecker mit Julia Helmke, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, und der Losung für den Kirchentag in Dortmund

Ich bin seit 1975 auf jedem Kirchentag gewesen und habe diese Treffen immer als Forum und Glaubensfest kennengelernt. Mir persönlich ist das Glaubensfest ganz wichtig: morgens die Bibelarbeit und am Abend der Segen. Dazwischen sind viele gesellschaftliche Diskussionen. Meine Hoffnung ist, dass es dem Kirchentag gelingt, Wege aufzuzeigen kann, wie man zusammensteht in einer zerrissenen Gesellschaft, wie man unterschiedliche Standpunkte akzeptieren und den Diskurs pflegen kann.

Gilt das auch für die beiden großen Kirchen in Deutschland?

Ja, wobei das ja ein Thema ist, das sich permanent auf den Kirchentagen wiederfindet. Das zeigt schon die Existenz der ökumenischen Kirchentage, der nächste 2021 in Frankfurt. 

Das Kirchenvolk ist in dieser Frage, so scheint es, zu größeren Schritten bereit als die Führung der beiden Kirchen. Wäre das nicht auch eine Botschaft in Dortmund, wenn es gelänge, dass sich auch die Spitzen der beiden Kirchen annähern?

Zu den Missbrauchsfällen: „Da sind ungeheuerliche Taten passiert, und das Selbstmitleid der katholischen Kirche schien bei einigen Repräsentanten der katholischen Kirche manchmal größer zu sein als das mit den Opfern“

Auf der oberen Hierarchieebene der evangelischen Kirche wollen diese Annäherung viele vorantreiben. Bei den Katholiken nehme ich verschiedene Strömungen wahr. Hinzu kommt, dass sie in einer weltweiten Kirche beheimatet sind. Da befindet sich die katholische Kirche in Deutschland auch in einem Korsett. Das sieht man auch bei den Missbrauchsfällen und den Äußerungen des Vatikans dazu. Was da aus Rom kam, war in meinen Augen zu wenig. Da wurden die Opfer nicht gehört. Da sind ungeheuerliche Taten passiert, und das Selbstmitleid der katholischen Kirche schien bei einigen Repräsentanten der katholischen Kirche manchmal größer zu sein als das mit den Opfern.  Wir müssen uns Strukturen anschauen: Was hat diese Verbrechen begünstigt? Die Missbrauchsfälle und der Umgang damit schaden beiden Kirchen gleichermaßen, da in einer mehr und mehr entchristlichten Welt keine Unterscheidung mehr gemacht wird zwischen evangelisch und katholisch. Auch Fragen wie das Zwangszölibat oder das Weiheamt für Frauen werden immer wieder gestellt, aber die Antworten machen wenig Hoffnung. Das gleiche gilt für das gemeinsame Abendmahl: Auch hier sind wir nicht viel weiter gekommen. Da braucht man mehr Tempo. Wer tatsächlich etwas verändern möchte, der muss jetzt etwas tun.

Ist da mehr die katholische als die evangelische Kirche gefragt?

Die evangelische Kirche muss alles dafür tun, die Missbrauchs-Verbrechen in den eigenen Reihen möglichst lückenlos aufzuklären. Auch bei den Protestanten gibt es Dinge, die den Missbrauch begünstigt haben. Zum Abendmahl: die Protestanten haben gelernt, mit dem Abendmahl anders umzugehen und dem eine höhere Bedeutung beizumessen, um mal ein Beispiel zu nennen, das man sich auch aufeinander zubewegt. Da würde ich mir wünschen, dass die Führung der katholischen Kirche dies auch stärker zur Kenntnis nimmt.

Sie waren Katholik, sind dann evangelisch geworden. Finden Sie es gut, dass es diese zwei getrennten, unterschiedlichen Kirchen gibt?

Ja. Die Einheitskirche fände ich schrecklich. Keine Frage, uns verbindet ganz viel, natürlich zu allererst den gemeinsamen Christus. Wir haben den gemeinsamen Glauben. Aber jetzt wieder alles in einen Topf zu werfen, da würden wir viel mehr verlieren. Wir können nur gewinnen, wenn jeder auch seine Stärken sieht und diese ausspielt, um Christen in der Kirche zu halten oder für sie zu gewinnen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Der 37. Deutsche Evangelische Kirchentag 2019 findet vom 19. bis 23. Juni 2019 in Dortmund statt. Präsident des Kirchentages ist Hans Leyendecker. Ursprünglich war Franz-Walter Steinmeier in dieser Rolle vorgesehen, der jedoch seit seiner Wahl zum Bundespräsidenten für das Ehrenamt nicht mehr zur Verfügung stand.