„In der Pandemie hat die Kirche bisher versagt“: Interview mit Hans Mörtter

Glauben und Kirche in Zeiten von Corona: Wie der Pfarrer einer evangelischen Gemeinde in Köln versucht, dem Virus zu trotzen, warum er einen „Kirchenstreik“ ausgerufen hat und der Meinung ist, die Kirche habe in der Pandemie versagt, was sich ändern muss in der Kirche – unabhängig von Corona. Ein Gespräch mit Hans Mörtter, evangelischer Pfarrer in Köln.

Das Interview führte Michael Cordes

Hans Mörtter, Pfarrer der evangelischen Luther-Kirche in Köln

Hans Mörtter, Jahrgang 1955, wurde als Sohn eines Metzgermeisters in Bonn geboren. Nach dem Theologie-Studium arbeitete er unter anderem ein Jahr als Pfarrer in Bogotá in Kolumbien. Mörtter ist verheiratet, hat eine Tochter und ist seit 1987 Pfarrer der evangelischen Gemeinde Luther-Kirche im Zentrum von Köln.

Glaubenslektuere: Kann man angesichts der Corona-Pandemie den Glauben an Gott verlieren?

Hans Mörtter: Ich verstehe die Frage nicht ganz. Warum sollte man? Das Corona-Virus kann eine Krankheit auslösen, die in wenigen Fällen zum Tode führt. Doch mit diesen Gefahren muss der Mensch leben. Im Autoverkehr verunglücken jährlich Tausende Menschen tödlich, an Krebs sterben ebenfalls viele Menschen. Alle vier Sekunden stirbt weltweit ein Kind unter 10 Jahren an Hunger. Dagegen sind die Folgen des Corona-Virus eher harmlos.

Also ist das Virus halb so schlimm?

Nein, natürlich ist jeder Tote zu betrauern. Und nicht, dass ich hier falsch verstanden werde: Natürlich muss man sich auch gegen das Virus schützen und sollte die üblichen Schutzmaßnahmen befolgen: Maske tragen, Abstand halten und Hygiene-Maßnahmen. Aber ich frage mich, wie wir mit dem Virus weiterleben wollen. Das wird uns die nächsten Jahre noch begleiten. Sollen wir uns dann nicht umarmen dürfen? Dürfen Enkel nicht ihre Oma und Opa besuchen? Gibt es keine Konzerte mehr, keine Theateraufführungen? Sollen Seniorenheime zur verbotenen Zone werden? Das können wir doch so nicht akzeptieren.

„Der Kirchenstreik ist auch ein Zeichen der Solidarität mit denen, die wirtschaftlich unter Corona leiden“

HANS MÖRTTER

Deshalb haben Sie einen Kirchenstreik ins Leben gerufen und an drei Sonntagen im November keinen Gottesdienst angeboten.

Ja, wir wollen damit aufmerksam machen auf diejenigen, die unter den Corona-Maßnahmen besonders leiden wie die Kulturschaffenden oder Gastronomen. Wobei am Sonntag die Kirche allen offen stand zum Besuch, zum Innehalten oder für ein Gebet. Nur ein Gottesdienst fand nicht statt. Es ist auch ein Zeichen der Solidarität mit denen, die wirtschaftlich unter Corona leiden und die um ihre Existenz bangen müssen. Und ich kann auch nicht einsehen, warum wir Gottesdienste mit bis zu 100 Personen feiern dürfen, aber im gleichen Raum mit gleichem Hygienekonzept keine Konzerte stattfinden dürfen. Da stimmt etwas nicht.

Ist die Pandemie vielleicht eine Chance für die Kirche, stärker auf sich aufmerksam zu machen?

Da habe ich große Zweifel. Ich glaube, die Kirchen haben strukturelle Defizite, die schon vor Corona bestanden und das Virus verdeutlicht hat. Die Kirche muss stärker auf die Menschen zugehen. Wer als Pfarrer ewig nach dem gleichen Rhythmus verfährt und schon vorher mit Schwund bei den Kirchenbesuchern zu kämpfen hat und glaubt, jetzt mit der Krise kommen die Menschen wieder zu ihm, weil sie Trost suchen, der irrt gewaltig. In der Pandemie hat Kirche insgesamt bisher versagt. Es fehlen Positionierungen zum Umgang mit dem Sterben, dem Thema Tod und Mutmachung. Dazu tatkräftiges und rettendes Eintreten für Menschen in existentieller Not über Mobilisierung von Spenden. Kirche stand zu wenig an der Seite der Menschen und berauschte sich an gestreamten Gottesdiensten, die nur wenige ansprachen.

Spüren Sie eine zunehmende Not, eine Vereinsamung bei den Menschen?

Das kann man nicht pauschal mit ja beantworten. Aber ja, so etwas gibt es. Die Corona-Krise verschärft die Lage gerade für diejenigen, denen es schon vor Corona nicht blendend ging. Hartz-4-Empfänger, Künstler*innen, Geschäftsleute…. Oder alleinerziehende, arme Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen mussten. Wir haben gleich zu Beginn der Krise im März zu Spenden aufgerufen und einen Hilfsfonds eingerichtet. Da sind immerhin 360.000 Euro zusammengekommen für Hilfsbedürftige, wodurch wir Menschen in existentieller Not retten konnten.

„Ich lese keine Gebete ab – das berührt und verbindet nicht und ist wenig überzeugend“

HANS MÖRTTER

Die Kirche muss stärker auf die Menschen zugehen, sagen Sie. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Zum Beispiel, ich dem ich mich in den Gottesdiensten von den starren Vorschriften löse, von der Liturgie mit den immer gleichen Texten, die zum Teil auch noch schwer verständlich sind, mit denen man die Leute nur langweilt. Ich predige nicht von der Kanzel. Wir müssen den Menschen auf Augenhöhe begegnen, ihre Sprache sprechen. Ich lese auch keine Gebete ab – das berührt und verbindet nicht und ist wenig überzeugend. Ein Gebet muss aus dem Herzen kommen. Und ich binde die Menschen im Gottesdienst ein, frage die Besucher, wenn ich das Gefühl habe, dass sie etwas nicht verstanden habe. Wir singen im Gottesdienst andere, moderne Lieder, zum Teil auf Englisch. Das spricht die Menschen an, deshalb kommen zu uns auch viele junge Menschen in die Gottesdienste.

Haben Sie in Köln einen Vorteil im Vergleich zu einer Gemeinde, die sich in einer Kleinstadt oder auf dem Land befindet, wo es weniger Möglichkeiten gibt, Menschen neu anzusprechen?

Nein, das ist eine Ausrede. Ich habe vorher in einer Gemeinde in einem Vorort von Saarbrücken gearbeitet, in der wir auch neue Angebote gemacht haben. Wenn ein Unternehmen weniger Absatz macht, dann muss es sich neu orientieren und andere Wege finden, um die Menschen zu erreichen. Nun sind Kirchen keine Unternehmen: Aber wenn ich als Pfarrer merke, es kommt keiner zu den Gottesdiensten, dann kann ich doch nicht die Hände in den Schoß legen und alles auf die äußeren Umstände schieben. Als ich hier in Köln anfing, hatten wir auch nur etwa 30 Gottesdienstbesucher. Dann waren wir bei 100 bis 120, Tendenz steigend. Bei besonderen Gottesdiensten kamen gut 300 Menschen und an Heiligabend waren wir in zwei Gottesdiensten statt anfangs 230 jetzt gut 1.700 Menschen mit public viewing seit sechs Jahren, live-Übertragung auf Großleinwand im Atrium inklusive Glühwein.

Mit Corona hat es sich leicht abgeschwächt. Ich bin fest überzeugt, dass man Menschen für die Kirche und für Gottesdienste begeistern kann. Da muss man als Pfarrer und auch als Gemeinde bereit sein, neue Wege gehen. Und die gibt es. Ich kann doch auch mal auf dem Land Musiker einladen und somit der Gemeinde etwas Neues, etwas Besonderes bieten. Aber wenn ich diese Musiker nicht anspreche, dann kommen die auch nicht.

Schrecken Ihre Neuerungen nicht die älteren Menschen ab, für die diese Liturgie seit Jahrzehnten wie das Amen zur Kirche gehört?

Nicht bei uns. Aber man muss die älteren Menschen mitnehmen. Wir machen den Senioren auch Angebote, aber eine Extrawurst wollen die nicht. Sie wollen nicht betreut, sondern ernstgenommen werden, dazugehören, ohne zu hilfsbedürftigen Objekten degradiert zu werden. Ein Beispiel: Während des ersten Lockdowns haben wir unsere älteren Gemeindemitglieder angerufen, wie es ihnen geht, ob sie Hilfe brauchen, beim Einkaufen zum Beispiel. Mich hatte nicht gewundert, dass niemand Hilfe brauchte. Sie sind souveräner als Kirche denkt. Unzählige ehrenamtliche Hilfsangebote hatten wir, die nicht gebraucht wurden. Man sollte die älteren Menschen in ihren Fähigkeiten und in ihrer Bereitschaft zu Neuem nicht unterschätzen.

In Ihrer Gemeinde gibt es eine Vielzahl von Projekten, die viele Menschen ansprechen. Aber begeistern Sie die Menschen auch für den Glauben? Oder muss sich die Kirche eingestehen: Mit dem Glauben an einen Gott können wir kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken?

Nein, keineswegs. Das gehört doch zwingend zusammen. Solche sozialen Projekte strahlen auf die Kirche ab und umgekehrt. Das ist moderne Spiritualität, wie ich sie verstehe. Wir als Kirche müssen nach draußen gehen, wo die Menschen sind. Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn etwas schiefläuft. Nehmen Sie die Entscheidung der evangelischen Kirche, Boote auf das Mittelmeer zu entsenden, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren. Diese Maßnahme ist ja nicht unumstritten. Aber das ist ein deutliches Signal nach außen: Wenn wir die christliche Botschaft ernst nehmen, können und dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken. Über eine solche Maßnahme muss man aber reden, in den Gemeinden, in den Gottesdiensten. Das ist ein Bekenntnisstand ohne Wenn und Aber! Auch das kann dann Teil einer modernen Spiritualität sein. Solche Themen beschäftigen und bewegen die Menschen. Ich bin überzeugt, wenn wir bei diesen Fragen, aber auch bei anderen Problemen als Kirche Haltung zeigen, wenn wir über soziale Projekte zeigen, was für uns Nächstenliebe bedeutet, dann ist das auch ein Weg, wie Menschen zur Kirche und damit zum Glauben finden. Insgesamt geht es um unser Menschsein, wer wir sind im globalen vernetzten Kontext. Darin wird Glauben neu erlebbar und Gott als uns stärkende herausfordernde Kraft. „Mystik und Widerstand“ (Dorothee Sölle): Darum geht es, um Mutmachung und Stärkung. Eine menschenzugewandte moderne Spiritualität, die erlebbar werden lässt, dass wir nicht alleingelassen sind und stärker sind, als wir denken und daraus der Aufstand für unser globales Menschsein möglich ist.

Herr Mörtter, herzlichen Dank für das Gespräch!

Zur Person: Hans Mörtter, 1955 in Bonn geboren, ist seit 1987 Pfarrer an der Lutherkirche in der Kölner Südstadt. Er selbst bezeichnet sich als bekennender Karnevalist, Nubbelredner, Fortuna-Pfarrer, Ehemann und Vater einer Tochter. 2017 wurde er zusammen mit seinem katholischen Kollegen Pfarrer Franz Meurer mit dem Georg-Leber-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet. In seiner Gemeinde hat er zahlreiche Sozialprojekte initiiert und wendet sich über diverse Medien, unter anderem mit einem wöchentlichen „Kölner Wort zum Sonntag“, an die Öffentlichkeit. Mehr zu Mörtter und seiner Gemeinde in Internet unter https://www.lutherkirche-koeln.de.